Mit einer Auslegeordnung, was ein Verteidigungsattaché weder tut noch ist, begann Oberst aD Bruno Russi im Januar 2023 seinen spannenden Fachvortrag, der mit vielen persönlichen Erlebnissen und Erkenntnissen angereichert war und die knapp 60 Teilnehmenden sehr fesselte. Verbunden mit der tragischen und dramatischen Aktualität in der Ukraine führte das im Anschluss an das Referat zu vielerlei interessanten Fragen, zu denen Bruno Russi mit profunder Lagebeurteilung Stellung nahm. Ein hochkarätiger Referent und ein fachkundiges, engagiertes Publikum waren die Ingredienzen für einen weiteren Top-Anlass der OG Bern, der kulinarisch ausgezeichnet und mit wertvollen persönlichen Gesprächen abgerundet wurde.

Wie eingangs erwähnt, klärte Oberst Russi zunächst einmal Funktion, Rolle und Aufgaben eines Verteidigungsattachés (VA). Es erstaunt kaum, dass sich hier beim durchschnittlichen Bürger viele Phantasien und Mythen rund um solche Funktionen ranken, wie wohl auch um diplomatisches Personal generell. Das "Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen" (SR 0.191.01) vom 18. April 1963, welches für die Schweiz am 28. April 1964 in Kraft getreten ist, bildet die Rechtsgrundlage für diplomatische Beziehungen und das damit verbundene Botschaftspersonal inklusive VA.

VA sind als "Spione" denkbar ungeeignet: Ihre Akkreditierung unterliegt einem analogen Verfahren wie demjenigen der Botschafter. VA haben sich an die Gesetze der Schweiz und des jeweiligen Gastlandes zu halten. Es gehört zu den Standardaufgaben eines VA, im Rahmen der gesetzlichen Leitplanken Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, Beziehungen zu unterhalten oder Türöffner-Tätigkeiten zwischen Gastland und Heimatland sicherzustellen, sowie im legalen Rahmen die sicherheitspolitische und militärische Lage zu beurteilen und Bericht an die Zentrale zu erstatten.

Wie Oberst Russi am Beispiel der VA von Deutschland und der Schweiz zeigt, haben die VA nicht in allen Staaten die gleichen Arbeitsschwerpunkte, Kompetenzen oder Meldewege. Und je nach Lage im Gastland werden im Rahmen der Hauptaufgaben eines Schweizer VA die einzelnen Aufgaben mit angepassten Schwerpunkten bearbeitet. Nicht alle Posten der Schweizer VA sind gleich gelagert und organisiert; deren Ausgestaltung hängt von der individuellen Lage im Gastland und den Beziehungen zur Schweiz ab. In Russland ist man mit Schwergewicht militärischer Beobachter.

Wichtig sind auch Kontakte zu allen anderen VA im Gastland, oft über 100 an der Zahl. Mit diesem VA-Verbundnetzwerk wird ein grosser Multiplikatoreffekt erzielt, und ein bestimmtes Thema wird aus verschiedenen Optiken, Kenntnisständen und sprachlichen Fähigkeiten heraus beurteilt, was ein abgerundetes Lagebild ergibt. VA haben auch Aufgaben im Rahmen sogenannter "Seiten-Akkreditierungen". Aus Moskau beispielsweise betreut der VA auch Belarus, Kasachstan und Armenien. Die Aufgabe Verbindungsoffizier zu den Verteidigungsministerien und Generalstäben beinhaltet schwergewichtsmässig, und ganz besonders in Russland, Fragen zur Entwicklung der Generalstäbe und der militärischen Organisation im Gastland, Ausrüstung und Einsatz von Truppengattungen, Beobachtung von militärischen Systemen, Beurteilung der Truppenausbildung, und dergleichen mehr.

Danach ging Russi auf die Frage ein, warum wir uns weiterhin kritisch mit Russland befassen sollten. Russland ist einer der fünf permanenten Mitgliederstaaten des UNSC (United Nations Security Council) und gehört damit zu den "grossen Fünf"; die Schweiz ist neu einer der fünf nicht-permanenten Mitgliederstaaten in der Periode 2023/24. Russland ist mit 17.1 Mio km2 das flächengrösste Land der Welt, hat Zugang zu mehreren Weltmeeren, und ist Nachbar vieler Staaten. Russland ist eine Atommacht und verfügt über ein grosses militärisches Kräftepotenzial.

Sich mit Russland zu befassen, heisst wohlverstanden aber nicht, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gutzuheissen, wie Russi unterstreicht. Die Schweiz muss in diesem Zusammenhang, wie jedes andere Land auch, eigene Interessen und Werte vertreten, die sich aber oft mit den Interessen der anderen freien Demokratien decken.

Nach einem spannenden historischen Exkurs ging Russi im Detail auf die Frage ein: Welche Interessen hat die Schweiz aktuell in Russland? Die Schweiz hat nach wie vor eine funktionierende Botschaft in Moskau. Die Schweiz figuriert aktuell auf einer russischen "Liste der unfreundlichen Staaten", welche allerdings eine Vielzahl von Staaten enthält, darunter alle, die die Sanktionen gegen Russland mittragen. Die Beziehungen sind dadurch komplizierter und schwieriger geworden, insbesondere auch der informelle Austausch. Das begann aber bereits 2014, als Russland nach der Krim-Annexion der Schweiz eine diplomatische Note überbrachte. Darin wurde die Einstellung diverser Zusammenarbeitstätigkeiten wegen des "unkooperativen Verhaltens" der Schweiz mitgeteilt. Oberst Russi konnte allerdings in hartnäckiger, proaktiv-initiativer und aufwändiger Tätigkeit wieder eine gewisse Anzahl an Zusammenarbeitsvorhaben aufbauen und damit die Kanäle offenhalten. Die Zusammenarbeit wurde jedoch nach dem 24. Februar 2022 wieder eingestellt.

Russi legte nun dar, wie sich in letzter Zeit die Aufgabenschwerpunkte des VA in Moskau verändert haben dürften. Derzeit stehen vmtl., die Aufgaben als sicherheitspolitischer und militärischer Berater (Lagebeurteilung, Berichterstattung), die Botschaftsberatung über sicherheitspolitische und militärische Fragen sowie das Krisenmanagement im Zentrum. Unklar ist, wie sich die Zusammenarbeit mit Russland und die Beziehung zu Belarus entwickelt, und welchen Einfluss Konflikte am Rand des russischen Territoriums (Berg-Karabach) haben. Problematisch für die Lagebeurteilung an Ort und Stelle sind zudem neue russische Gesetzgebungen zu den Bereichen Medien sowie «ausländischen Agenten». Das führte dazu, dass seitens Qualitätsmedien nur noch wenige Korrespondenten in Russland verblieben sind. Die Bedeutung der VA als Vertreter/Beobachter vor Ort mit diplomatischem Schutz ist darum wichtiger als je zuvor.

Das Netzwerk der VA ist sehr wichtig: In Russland hat es VA aus 103 Staaten mit entsprechendem Multiplikatoreffekt für die eigene Informationsbeschaffung und -verarbeitung. OSINT (Open Source Intelligence) kann vor Ort, in der Originalsprache und im originalen Umfeld, viel besser und mit mehr Tiefenschärfe genutzt werden als "von Bern aus". Manöverbeobachtungen ermöglichen Einblick in neue Verfahren und Systeme, die oft anlässlich von Grossübungen getestet werden. Daraus wurde beispielsweise ersichtlich, dass die russischen Streitkräfte abweichend von der traditionellen Befehlstaktik mit Auftragstaktik experimentierten. Aufschlussreich war auch die regelmässige Teilnahme an den Moskauer Sicherheitskonferenzen.

Es gilt auch "Grenzen der Arbeit des Verteidigungsattachés " zu respektieren. Sehr wichtig ist es, im Gastland nicht in einer "VA-Blase" zu leben, sondern sich z.B. in Vereinen auszutauschen, um so aus erster Hand einen breiteren Einblick in das reale Leben und Denken zu bekommen. Bruno Russi wählte dazu u.a. die Mitgliedschaft in einem örtlichen Rotary-Club. Das anders gelagerte Netzwerk und die eigenen Wahrnehmungen der Partnerin oder des Partners bieten wichtige Zusatzinformationen zum Gastland aus anderer Perspektive. Die Gastgeber-Tätigkeit mit persönlichen Anlässen bei sich daheim oder in der Botschaft ermöglicht weitaus offenere, informelle Gespräche als beispielsweise in einem öffentlichen Restaurant, gerade in Staaten wie Russland. Seine abwechslungsreichen Erfahrungen, verpackt in ein spannendes Referat, schloss Oberst Russi mit einem Zitat eines deutschen VA zur Sicherheitsbeziehung mit Russland: «Wir sind derzeit gezwungen, Sicherheit gegen Russland zu schaffen, aber auf lange Frist können wir nur Sicherheit mit Russland nachhaltig erreichen.»

Oberst Markus Brunner

 

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